Der Brief des Ordensgenerals
der Unbeschuhten Karmeliten
Pater Saverio Cannistrà OCD
zur Heiligsprechung der
Eltern der hl. Therese von Lisieux
am 18. Oktober 2015.
Liebe Schwestern und Brüder
im Karmel,
am […] 18. Oktober [2015],
wird Papst Franziskus auf dem Petersplatz die Eheleute Louis Martin und Zélie Guérin, die Eltern der hl. Therese
von Lisieux, heiligsprechen und sie damit der gesamten Kirche als Vorbilder für
das christliche Leben vor Augen stellen. Sie sollen zur Inspirationsquelle und
zu Gefährten auf unserem Weg werden und uns Mut, Licht und Ermutigung schenken.
Das ist für uns alle Grund zu
großer Freude und Dankbarkeit gegenüber dem Herrn, wo wir gerade die Feier des
500. Geburtstages der hl. Teresa von Ávila, der Mutter unserer Ordensfamilie,
beendet haben, die von der Kirche selbst als ein Ort anerkannt ist, der
besonders reich ist an glaubwürdigen Zeugen für Gottes Schönheit und Liebe.
Diese Heiligsprechung ist ein
weiteres Zeichen, mit dem uns der Herr zur Stärkung unseres Glaubens und zur
Ermutigung auf unserem Weg als Karmeliten beschenkt, die wir berufen sind, die „kämpferische
Sanftmut“ (Evangelii gaudium 85) des Bräutigams zu erfahren, der mit seiner
Liebe die Hoffnung in den Herzen aller Menschen entzünden möchte. Wir leben in
einer von tiefen Umwandlungen geprägten Zeit, die global alle Bereiche des
menschlichen Lebens betreffen, wie Gebräuche, Kultur, Religion, Gesellschaft,
Wirtschaft, was Spannungen und Ängste hervorruft. Es entstehen Gefühle der
Unsicherheit und des gegenseitigen Misstrauens, Situationen der Ungerechtigkeit
und Instabilität, die das friedliche Zusammenleben und das Vertrauen unter den Menschen
auf eine harte Probe stellen, was für ein gemeinsames und ersprießliches Zusammenleben
unerlässlich ist.
Die biblische Sicht des
Menschen mit seiner zweifachen Ausformung als Mann und Frau und das damit
verbundene Verständnis seiner Bedeutung für das Leben sind nicht mehr
Allgemeingut, sondern werden hinterfragt. Im Mittelpunkt dieser Auseinandersetzung
um das Leben steht die natürliche Familie, die auf der schlichten Anerkennung
der gottgegebenen Unterscheidung in Mann und Frau begründet ist. Das erlaubt
es, in einem auf gegenseitige Liebe gegründeten Bund das menschliche Leben
nicht nur für sich, sondern für jedes menschliche Wesen zu zeugen, zu behüten und
wachsen zu lassen.
Die Heiligsprechung der
Eheleute Martin ist ein Zeichen der Zeit, das uns im Tiefsten in Frage stellen
muss, da sie einen epochalen Wert hat. Die Kirche hat unter Leitung des Hl.
Geistes zum ersten Mal in ihrer Geschichte entschieden, am Weltmissionssonntag
während der 24. Ordentlichen Bischofsynode zu Berufung und Sendung der Familie
ein Ehepaar heiligzusprechen.
Eine exemplarische Familie?
Es sind 150 Jahre vergangen, seit Louis und Zélie um
Mitternacht des 12. Juli 1858 in Alençon geheiratet haben, und seitdem hat sich
vieles in der Kirche und in der Kultur Europas verändert. Inwiefern können ihre
Ehe und die Geschichte ihrer Familie für uns heute exemplarisch sein, wenn die
Familie in der Theorie und weitgehend auch in der Praxis heute von dem, was
diese beiden geglaubt und gelebt haben, so weit entfernt ist?
Zuallererst muss man sich von den Vorurteilen und
kulturellen Klischees frei machen, die alles, was mit dem 19. Jahrhundert zu
tun hat, als antiquiert und überholt abtun.
Wenn wir das Leben der
Familie aus der Nähe betrachten, sehen wir einen Mann und eine Frau, die eine
gemeinsame Geschichte haben, geprägt von Ereignissen, in denen wir uns auch
noch wiederfinden können, weil sie dem Leben entspringen: Sie heiraten, nach
den damaligen Vorstellungen nicht mehr ganz jung – sie 27, er 35 Jahre alt, als
sie sich kennenlernten – und führen ein gemeinsames Leben, indem sie Tag für
Tag lernen, ihre Fähigkeiten, ihre Verantwortung, die Lasten, Freuden und
Schmerzen miteinander zu tragen. Louis führte ein Uhrengeschäft, Zélie hatte in
Eigenverantwortung mit der Herstellung der berühmten Alençoner Spitzen
begonnen. Ihre Arbeit sicherte ihnen einen gewissen Wohlstand, ohne diesen zur
Schau zu stellen oder sehr besorgt zu sein, wiewohl der Krieg von 1870/71
zwischen Frankreich und Preußen die wirtschaftliche Lage schwieriger gemacht
hat.
Gemeinsam zu arbeiten, neun
Kinder zu bekommen, sich um sie zu kümmern, den Tod von vier von ihnen im
Kleinstkindalter zu ertragen war gewiss nicht leicht, insbesondere für Zélie,
die als Unternehmerin auch Arbeitgeberin und somit auch für das Auskommen ihrer
Arbeiterinnen und deren Familien verantwortlich war. Louis stand ihr immer zur
Seite und trug mit Gelassenheit die Lasten seiner Frau mit. Er stärkte sie
durch seine beständige Nähe und entschloss sich, als er seine Frau immer
erschöpfter erlebte, seine Arbeit aufzugeben, um ihr um so mehr unter die Arme
zu greifen, besonders als sie von ihrer Krankheit heimgesucht wurde, die 1877
zu ihrem Tod führte, als sie erst 46 Jahre alt war.
Louis hatte von da an bis zu
seinem Tod, der 17 Jahre auf sich warten ließ, das Los eines Witwers zu tragen,
gezeichnet von einer demütigenden Erkrankung, die ihn seiner geistigen
Fähigkeiten beraubte. Er sorgte für seine fünf Töchter und deren Ausbildung und
entschloss sich, die Übersiedlung von Alençon nach Lisieux in Kauf zu nehmen,
damit sie von der Tante Celine betreut werden könnten, die ihnen mit großer
Zuneigung verbunden war. Alle fünf Töchter traten in ein Kloster ein. Sie dabei
zu begleiten, besonders seine Lieblingstochter Thérèse, bedeutete für ihn kein kleines
Opfer; doch lebte er es als selbstlosen Akt der Hingabe seines Lebens und
seiner Kinder an Gott, wie er es zusammen mit Zélie schon führte; hatte er doch
für seine Familie das Motto von Jeanne d‘Arc gewählt: Zuerst Gott dienen.
Die Ehe – Berufung und
Freundschaft
Die Aufzählung einiger
konkreter Erfahrungen der Eheleute Louis und Zélie Martin führt uns schnell zu
ähnlichen Erfahrungen vieler Familien heute, die wirtschaftliche Probleme
bewältigen, den schnellen Rhythmus ihrer täglichen Arbeit mit der Erziehung der
Kinder vereinbaren und den vielfältigen Beschwerden des Alltags einen Sinn
abringen müssen, die unerbittlich an die Türe klopfen und den Familienfrieden
auf die Probe stellen. Doch der Grund, warum die Kirche das Zeugnis ihres
Ehelebens für vorbildlich hält, ist viel tiefer und bezieht sich auf die
Wahrheit der menschlichen Liebe im göttlichen Schöpfungsheilsplan.
Wenn wir an die Wurzel ihrer
Erfahrung gehen, entdecken wir schnell zwei Züge, die sie aktuell machen und
uns zeigen, wie eine Liebesbeziehung „funktionieren“ kann, so dass wir
besonders den jungen Paaren ein Wort des Trostes sagen können, die aufgrund so
vieler Erfahrungen des Scheiterns nicht mehr glauben, dass Treue möglich ist
und sich so mit einer eher niedrigen Erwartung an das Leben zufrieden geben,
obwohl die Sehnsucht im Herzen bleibt. Der erste Zug ist, die Ehe als Berufung
zu betrachten. Darauf sind Louis und Zélie durch ihre Lebensgeschichte
vorbereitet worden, da beide daran gedacht hatten, ihr Leben als Christen Gott
in einem Orden zu weihen. Natürlich ist es nicht das, was die
Beispielhaftigkeit ausmacht; es ist viel mehr die Sensibilität und
Bereitschaft, die eigene Existenz zu verstehen und zu empfangen als einen Dialog
mit dem Schöpfer selbst, der einen guten Plan hat und auf dem Lebensweg
Hinweise aufstellt, die einem wachen Menschen zeigen, welches der Weg zur
Stillung der Sehnsucht des eigenen Herzens ist. Nur so, wenn man das, was von
Gott kommt, als Geschenk betrachtet und lernt, den anderen als den Liebesblick
des Vaters zu betrachten, ist es möglich, sein Lebenshaus auf ein solides
Fundament zu gründen. Das wurde Zélie klar, als sie beim Überqueren der St.- Leonhard-Brücke
in Alençon in sich die Stimme hörte: "Das ist der Mann, den ich für dich vorgesehen
habe.“
Der zweite Zug ist eine
direkte Folge dieses Blickes und dieser Öffnung des Herzens: Die Beziehung mit
der Gattin bzw. dem Gatten als Freundschaft zu leben. Die Achtung und der Respekt,
die sich aus der Spontaneität, sich ohne eigenes Zutun als Verbündete zu
erleben, und dem wohltuenden Gefühl ergeben, dem anderen eine Hilfe zu sein,
befähigen zu Geduld, Demut, Beharrlichkeit, Zärtlichkeit, Vertrauen und
Neugierde, die nötig sind, damit eine Beziehung nicht zu einer Selbstsuche im
anderen verkommt oder zum Versuch, über ihn Macht auszuüben, oder sich in Routine
erschöpft. In Ausdrücken wie „Im Geiste folge ich Dir den ganzen Tag und sage
mir: "Jetzt tut er dies. Es wird mir sehr lang, bis ich wieder bei dir
bin, mein lieber Louis. Ich liebe Dich aus ganzem Herzen und fühle, wie sich
meine Liebe verdoppelt durch die Entbehrung Deiner Gegenwart; es wäre mir
unmöglich, fern von Dir zu leben" (31. August 1873 [145]).1 „Ich bin immer
noch sehr glücklich mit ihm, er macht mir das Leben recht angenehm. Mein Mann
ist wirklich ein Heiliger. Ich wünsche allen Frauen einen solchen Mann – das
ist mein Neujahrswunsch für sie“ (1. Januar 1863 [8]); oder „dein Mann ist ein
echter Freund, der dich mehr liebt als das Leben“ – in diesen Ausdrücken ist
nichts Süßliches, sondern sie sind das Zeichen für eine ehrliche und solide
Zuneigung.
Die unterschiedlichen Empfindsamkeiten
und die vielen kleinen Zwischenfälle im ehelichen Alltag, die mitunter zu einer
Entfernung führen und die Intimität abkühlen, werden von Louis und Zélie als Gelegenheiten
gelebt, das eigene Anderssein mit einem Blick voll Sympathie und zärtlicher Annahme
einzuüben, wie aus diesem Briefauszug hervorgeht: „Wenn Du diesen Brief
bekommst, bin ich dabei, Deinen Arbeitstisch zu ordnen. Du musst nicht böse
sein, ich werde nichts wegwerfen, nicht einmal ein altes Metallplättchen, nicht
ein Endchen von einer Feder. Dann findest Du alles – oben und unten – schön
sauber. Du wirst mir nicht sagen, ich habe den Staub nur ‚verschoben‘; Du wirst
keinen mehr finden. […] Ich umarme Dich von ganzem Herzen und bin so glücklich
heute beim Gedanken, Dich wiederzusehen, dass ich nicht arbeiten kann. Deine
Frau, die Dich mehr liebt als ihr Leben“ (ohne Datum 1869 [59]).
Die Weitergabe des Lebens:
Zeugen und Erziehen
Zu Beginn war es für Zélie
und Louis nicht leicht, sich für das Leben zu öffnen. Es ging für sie darum zu
verstehen, dass die aus ganzem Herzen zu Gott kommende Liebe sich durch die
totale Hingabe an den Ehegatten vollzieht; dass sich der Vater seiner Schöpfung
annehmen kann, um seine Kirche als Familie der Kinder Gottes aufzuerbauen. Der
Ehrlichkeit ihres Suchens nach Gottes Willen und ihrem Hören auf den sie
begleitenden Priester ist es zuzuschreiben, dass sie die Schönheit der Berufung
zur Ehe begriffen, die sie allerdings ursprünglich in Enthaltsamkeit leben wollten.
Insgesamt gingen neun Kinder aus ihrer Ehe hervor, die ihrer beider Leben mit
Freude erfüllte. „Als wir unsere Kinder bekamen, änderte sich unsere
Einstellung etwas. Wir lebten nur noch für sie, und das war unser ganzes Glück,
und wir fanden es nur noch in ihnen. Nichts wurde uns mehr schwer; die Welt
lastete nicht mehr auf uns. Für mich waren die Kinder der schönste
Lebensinhalt; darum wollte
ich auch viele bekommen, um sie für den Himmel zu erziehen. Vier von ihnen sind
bereits untergebracht, und die anderen nun, sie kommen auch ins himmlische
Reich, und zwar mit mehr Verdiensten, weil sie länger darum gerungen haben“ (4.
März 1877 [316]). In diesem Ausschnitt scheinen einige wichtige Aspekte auf,
die die Beziehung zu den Kindern erhellen, woran die Familien bis heute lernen
können: Die Geburt eines Kindes als ein Geschenk zu sehen, und zwar immer, weil
es von Gott kommt und zu ihm hinführt, auch wenn sein Leben nur kurz oder vom
Schmerz gezeichnet sein sollte. Erziehen heißt dann, zur Kenntnis des eigenen
guten Ursprungs hinführen, also zum Vater; sodann die Sehnsucht nach dem Himmel
zu wecken und die irdische Existenz mit ihren Mühen, Einsätzen und Leiden als
Vorbereitung darauf zu leben, als etwas Wertvolles und mit Vertrauen und Liebe
Angenommenes, als Schritt auf einem Weg, der zum Ziel führt und den Wert der
Person wachsen lässt.
Das wirkt überzeugend und
wird zur Wahrheit, die das Gewissen formt und die Schritte im Leben stärkt,
wenn die Kinder es in ihren Eltern inkarniert sehen und es gleichsam einatmen
als etwas, was dem Leben und Tun Sinn verleiht. Das Streben Zélies nach
Heiligkeit für sich selbst und für ihre Lieben war eine Konstante, auch
angesichts der eigenen Grenzen und der verlorenen Zeit: „Ich will eine Heilige
werden, und das wird nicht leicht sein, es gibt viel abzubauen, und das Holz
ist steinhart. Es wäre besser gewesen, früher damit anzufangen, als es noch
leichter war; aber ‚besser spät als gar nicht‘“ (1. November 1873 [150]). Ihrem
Bruder schreibt sie am 29. März 1874: „Es macht mir Freude zu wissen, dass Du
in Lisieux sehr angesehen bist; Du wirst ein verdienstvoller Mann werden;
darüber bin ich sehr froh, aber ich wünsche vor allem, dass Du ein Heiliger
wirst“ (29.März 1874 [159]). Auch gegenüber der von ihrem Charakter her
schwierigen Tochter Léonie, die in der Schule als „schreckliches Kind“
bezeichnet wurde – „das arme Kind steckt voller Fehler, es steckt darin wie in
einem Mantel. Man weiß nicht, wie man Einfluss auf Léonie bekommen soll“ –
fehlt es ihr trotz des bedrückenden Bewusstseins ihrer großen Grenzen nicht an
einem auf den Glauben an Gottes Güte und die Hingabe an seinen Heilsplan sich
gründenden Vertrauen: „Aber Gott ist so barmherzig, ich habe immer gehofft und
hoffe weiter“ (21. Januar 1877 [301]). Aus dem Zeugnis der hl. Therese kennen
wir gut den vertrauten Umgang von Louis mit Gott, und wie dieser auf seinem
Antlitz aufschien: „Manchmal füllten sich seine Augen mit Tränen, die er vergeblich
zurückzuhalten versuchte; er schien bereits nicht mehr der Erde anzugehören, so
sehr liebte es seine Seele, sich in die ewigen Wahrheiten zu versenken;“ „ich
brauchte ihn nur anzusehen, um zu wissen, wie Heilige beten.“
In einem solchen Klima wird
das Übernatürliche zu Leben und die Dinge dieser Welt werden geradezu natürlich
aus einer Perspektive der Ewigkeit beleuchtet. So kann die Familie ihre ursprüngliche
Eigenart wiedergewinnen, die in unserer Zeit oft missverstanden wird, nämlich
„der erste Ort zu sein, wo wir lernen, uns mitzuteilen“, wobei „Mitteilung als
Entdeckung und Auferbauung von Nähe“ zu verstehen ist (Botschaft von Papst
Franziskus zum 49. Welttag der sozialen Kommunikationsmittel, 17. Mai 2015).
Ein einfühlsames,
gastfreundliches und selbstloses Paar
Die Aufmerksamkeit für den
anderen und die Dankbarkeit für sein Sosein, die im ehelichen Alltag geübt und
in das moralische und geistliche Wohl der Kinder einströmte, hat in der Familie
Martin in der Form selbstloser Liebe, Aufnahme von Armen und dem Gespür für
Notleidende eine wichtige Ergänzung erfahren. Die Liebe zu Gott ist, wenn sie
echt ist, untrennbar mit der Liebe zum Nächsten verbunden, besonders zu dem,
der Hilfe braucht. Es gibt viele Ereignisse im Leben von Zélie und Louis, in
denen diese schöne Sorge für den Nächsten sichtbar wird – beginnend bei den wie
eigene Töchter behandelten Arbeiterinnen, die bei der Spitzenherstellung halfen
(vgl. Brief vom 2. März 1868 [40f.]) –, da in ihnen Christus lebt und sie
deshalb Gott ganz besonders am Herzen liegen (vgl. Evangelii gaudium 24.178).
Diese Aufmerksamkeit gilt dem ganzen Menschen, seinem leiblichen und seelischen
Wohlergehen; sie wird zu einer ausgleichenden Gerechtigkeit, zu Tischgemeinschaft,
Suche nach ärztlicher Hilfe und einem Bett für Obdachlose, Spende von Trost als
Gottes spürbare Nähe durch die Vermittlung eines Priesters in der Stunde des
Hinscheidens, selbstlose Unterstützung von Menschen in Not, Gefallen an der
Freude des anderen, Solidarität mit von Leid Heimgesuchten und Besuche bei den
Armen.
Die Sorge für die Armen durch
die Eheleute Martin gehört zu einer Art von Armut, die im Herzen ihrer Töchter
das konkrete Gespür für die Präsenz Jesu und die Wahrheit seines Evangeliums einprägt.
Ihre Nüchternheit ist nicht Nachlässigkeit, sondern eine Haltung, die der
Veranlagung des Herzens entgegentritt, sich beim Einsatz mit der Zeit, den
eigenen Kräften und den geistlichen und materiellen Ressourcen in sich zu
verschließen. Freude in der Armut, die menschlich bereichert, nährt sich aus
der Erfahrung, seinen eigentlichen Reichtum in der Annahme von Christi Gnade zu
haben; die eigenen Schwächen und Fehler brauchen angesichts der Barmherzigkeit
Gottes nicht verdrängt zu werden, so dass man dennoch in der Vereinigung mit
ihm und in Solidarität mit den Schwestern und Brüdern leben kann, denen man
dann auch wieder Barmherzigkeit erweist. Dazu lesen wir bei Zélie: „Mein Gott,
wie traurig ist doch ein Haus ohne Religion! Wie schrecklich erscheint dort der
Tod! […] Nun, ich hoffe, dass Gott Mitleid mit der armen Frau hat; sie ist so schlecht
erzogen, dass sie dadurch zu entschuldigen ist“ (31. Oktober 1875 [215f.]);
„Bete viel zum heiligen Josef für den Vater unseres Dienstmädchens. Er ist sehr
krank, und ich würde es sehr bedauern, wenn dieser brave Mann ohne Beichte
sterben würde“ (22. März 1877 [328]); „Ich war so erschöpft, dass ich selbst
krank wurde, […] und musste doch einen Teil der Nacht auf sein, um unser
Dienstmädchen zu pflegen“ (11. Oktober 1874 [170]); „Ich habe meinen Mann so
lange bearbeitet, bis er sich entschied, einen Teil des Bankkredits zu
verkaufen; er tat es mit einem Verlust von 1.300 Frs auf 11.000 Frs, die er
zurückbrachte. Wenn mein Bruder Geld braucht, soll er sofort darum bitten, und
er möge mir sagen, ob wir auch den Rest verkaufen sollen“ (30. Juli 1871 [93]).
„Ich habe ihn gebeten, immer zu uns zu kommen, wenn er etwas brauchte, ihn aber
nie mehr gesehen. Zu Beginn des Winters endlich trifft Vater ihn eines
Sonntags, als es sehr kalt war; er hatte nackte Füße und fror. Vater war voller
Mitleid mit dem Unglücklichen und hat alle möglichen Schritte unternommen, um
ihn in einem Hospiz unterzubringen. […] Doch Vater gab nicht auf; er hatte sich
diese Angelegenheit zu Herzen genommen, also stellte er von neuem seine
Batterien auf, um ihn bei den ‚Unheilbaren‘ unterzubringen“ (3. Dezember 1876
[281f.]).
Die Quelle für die Heiligkeit
ihres Lebens
In seiner Homilie bei der
Vigilfeier zur Synode auf dem Petersplatz am 3. Oktober hat Papst Franziskus
gesagt: "Um die Familie von heute zu verstehen, begeben wir uns ins
Geheimnis der Familie von Nazareth, in ihr verborgenes Leben im Alltag und an
den Festen, wie es für die meisten Familien heute zutrifft, mit ihren Leiden
und schlichten Freuden; in ein Leben mit Gelassenheit und Geduld angesichts von
Widerwärtigkeiten, der Achtung vor der Eigenart jedes Menschen und von jener
Demut, die im Dienst aufblüht und zur Befreiung führt, und zu einem
geschwisterlichen Leben führt, das aus dem Erleben, entströmt, Teil eines
einzigen Leibes zu sein.
Die Familie ist der Ort, an
dem sich die Heiligkeit des Evangeliums in den ganz gewöhnlichen Bedingungen verwirklicht.
Hier atmet man die Erinnerung an die Generationen ein und es werden die Wurzeln
geschlagen, die erlauben, weit weg zu gehen. Sie ist der Ort zur Einübung in
die Unterscheidung, wo die Hinführung zur Erkenntnis des göttlichen Heilsplanes
für das Leben und zu dessen mutiger Annahme geschieht. Sie ist der Ort der
Vorleistungsfreiheit und einfühlsamer, geschwisterlicher und solidarischer
Präsenz, die lehrt, aus sich herauszugehen, um den anderen aufzunehmen, ihm zu vergeben
und selbst Vergebung zu erlangen.“
Diese Beschreibung zeigt uns,
inwieweit die Familie Martin im Heute wurzelt. Ihre Heiligsprechung zeigt allen
Familien, insbesondere den christlichen, die außerordentliche Schönheit der
alltäglichen Dinge, sobald die eigene Lebensgeschichte aus den Händen Gottes
angenommen und ihm dargebracht wird mit dem beruhigenden Wissen, dass „es bei
all dem das Klügste und Einfachste ist, sich dem Willen Gottes zu ergeben und
sich vorzeitig darauf vorzubereiten, sein Kreuz so mutig wie möglich zu tragen“
(12. Februar 1870 [65]). „Wir müssen jetzt besonders in uns die Gesinnung
pflegen, den Willen Gottes anzunehmen; er ist immer das Beste für uns, was es
auch sei“ (Mai 1877 ohne Datum [349]).
Innerer Friede, gläubige und
beharrliche Annahme der Herausforderungen, die das Leben mit sich bringt, die
Fähigkeit, die zwischenmenschlichen Beziehungen selbstlos zu leben und den
anderen in seiner Einmaligkeit ins Zentrum zu stellen, was den Ehealltag von
Louis und Zélie und die Beziehung zu ihren Kindern geprägt hat, sind nicht
Frucht besonderer Gnaden oder mystischer Erfahrungen; sie entströmen dem
Bemühen, durch Zurücknahme seiner selbst den Willen Gottes ernst zu nehmen und
durch den täglichen Sakramentenempfang, die Stärkung der Verbindung mit Jesus in
der Anbetung seiner in der Hostie treuen und beständigen Liebe, das Beten in
der um Maria versammelten Familie sowie die Teilnahme an den karitativen
Tätigkeiten der Pfarrei, trotz vieler Verpflichtungen, am Leben der Kirche
teilzunehmen; und bei allem immer Zeit zu haben, den Töchtern zuzuhören, sie
mit Entschiedenheit und Liebenswürdigkeit zu korrigieren, ihnen von Jesus zu
erzählen und sich in einer Haltung vertrauensvoller Hingabe an seine
geheimnisvolle, aber doch konkrete Präsenz um ihre persönliche Entwicklung zu
kümmern, um dadurch Raum für Gott zu schaffen. Sich mit Bewunderung und Staunen
angeblickt und in der eigenen unwiederholbaren Individualität respektiert und
bedingungslos angenommen zu fühlen, auch wenn die eigene Existenz Anlass zum
Leiden gibt, ist für den Menschen, dem das zuteil wird, eine Quelle für
Wohlergehen und unbezahlbare und unzerstörbare positive Erfahrung. Es ist dies
die menschliche Erfahrung, die dem Blick Gottes am nächsten kommt und deshalb
das Tor des Herzens aufmacht und fähig macht, die Wege der Heiligkeit zu gehen,
wie es diese Familie deutlich zeigt.
Die beständige Suche nach dem
vertrauten Umgang mit dem Herrn und seiner Mutter Maria, wie sie Louis und
Zélie exemplarisch vorgelebt haben, ist die wertvollste Botschaft, die sie
ihren Töchtern und uns, den Söhnen und Töchtern der hl. Teresa, hinterlassen
haben. Ihre Heiligsprechung richtet an den Teresianischen Karmel die Einladung,
immer mehr Familie zu werden und die Schönheit und Bedeutung unserer Alltagsverpflichtungen
zu entdecken und dabei in aller Demut von den Familien zu lernen, die mit
Nachdruck ihre Berufung und Sendung leben.
Die Feststellung, dass sich
aus einem gläubig gesprochenen Ja Folgen ergeben, die weit über uns hinausgehen
und sich in der Welt verbreiten, ist für uns eine große Ermutigung. Mit dem
Blick auf die Eheleute Martin und auf die sichtbaren Früchte der Heiligkeit
ihres Lebens, ein Herz und eine Seele zu sein, werden wir uns mehr bewusst,
dass wir um so mehr Kommunität werden, „die begleiten, feiern und Frucht
bringen kann“, je mehr wir lernen zu kommunizieren, und wir verstehen, dass
„die schönste Familie – Protagonistin und nicht Problem – jene ist, die vom
eigenen Zeugnis ausgehend die Schönheit und den Reichtum der Beziehung zwischen
Mann und Frau und jener zwischen Eltern und Kindern zu kommunizieren versteht.“
Mein Wunsch ist, dass wir mit
Hilfe der Gnade, die wir durch diese Heiligsprechung erhalten, uns bemühen, das
Lebenszeugnis dieses Ehepaares näher kennenzulernen, auch durch die Lektüre
ihrer Korrespondenz, und uns kreativ auf den von der Kirche vorgegebenen Weg
begeben, die uns einlädt, die Familie von neuem als unverzichtbares Mittel für
die Evangelisierung und als Schule für die Menschheit zu entdecken.
P. Saverio Cannistrà OCD
Generaloberer
(Quelle: Treffpunkt ocd
4,2015)
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