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Teresa von
Avila: Wegweisung zum inneren Gebet
Marianne Schlosser, Wemding 28.03.2015
Teresa, die große Mystikerin, Gründerin kontemplativer
Klöster, die Lehrmeisterin des geistlichen Lebens, zur Kirchenlehrerin erhoben
... kann sie uns im mühsamen Alltag des Gebetslebens helfen?
Es ist tröstlich: Teresa kannte die Schwierigkeit,
sich zu „sammeln", wusste, wie es sich anfühlt, wenn die Gedanken keine
Ruhe geben und der Verstand „wie ein Verrückter" herumspringt; sie hatte
selber (vor ihrer zweiten Bekehrung) Phasen durchlebt, in denen sie nicht gern
betete und der Begegnung mit Gott lieber auswich. Als sie für ihre Schwestern
im Kloster San Jose (1562 gegründet) eine Anleitung zum Gebet unter dem Titel „Weg der Vollkommenheit" niederschrieb,[1]
hatten die genaue Selbstbeobachtung und die Begleitung anderer Personen sie
bereits vieles gelehrt. Diesen reichen Schatz an Erfahrung kleidet sie, und das
ist wohl auch ein Glücksfall für uns!, bewusst in eine schlichte, gut
verständliche Sprache; sie setzt keine Kenntnisse mystisch-theologischer Werke
oder spezieller Terminologie voraus, sondern nur das, was allen Christgiäubigen
vertraut ist: das Vaterunser, die Unterweisung, die Jesus selbst seinen Jüngern
gab, als sie ihn baten: Herr lehre uns beten.
Damit steht Teresas Gebetsunterweisung in einer langen
Tradition, die bis in die frühe Christenheit zurückreicht: Schon die
Kirchenväter des 2. und 3. Jahrhunderts kommentierten das Gebet des Herrn, weil
es Modell
für alles christliche Beten ist, eine „Kurzfassung des Evangeliums", an dem
alle Gebete sozusagen Maß nehmen müssen. Teresa nennt noch zwei andere
Beweggründe für ihren Ansatz: Zum einen sagt sie von sich selbst, dass sie von
den Worten des Evangeliums stets tiefer ergriffen worden sei als von Büchern
über das Gebet, selbst wenn diese hilfreich sein können (Cap. 21,4). Zum
zweiten reagiert sie auf eine im damaligen Spanien schwelende
Auseinandersetzung: die Spannung zwischen den sogenannten „Spirituellen",
die die lebendige innere Erfahrung betonten, und den
„Intellektuellen", den Schultheologen. Die
extrem-spirituelle Richtung der
„Erleuchteten" („alumbrados") wollten dem
innerlichen Gebet, der Kontemplation oder mystischen Erfahrung, sogar einen
höheren Rang als den Sakramenten zuweisen. Derartige dem Glauben der Kirche
entgegenstehende Theorien hatten das Verlangen nach „innerem Gebet"
generell in Verruf gebracht, so dass Seelsorger einfachen Leuten, so auch den
theologisch nicht gebildeten Schwestern, den Rat gaben, schlicht „mündliche
Gebete" zu verrichten: Es sei sicherer, sich vorgeformter Gebete wie des
Vaterunser oder des Avemaria zu bedienen.
Inneres Gebet
Teresa erklärt daher zuerst, dass kein „mündliches
Gebet" - also ein mit dem Mund, in vernehmbaren Worten ausgesprochenes
Gebet - den Namen „Gebet" überhaupt verdient, wenn es nicht zugleich
„innerlich" ist: Bei jedem Gebet kommt es darauf an, dass man mit dem
Herzen „dabei" ist. „Dabei zu sein", „an-dächtig" zu sein,
bezieht sich aber nicht so sehr auf die Worte, die man ausspricht, sondern auf die Person, zu der man spricht, wie man auch bei großen
Theologen wie Bonaventura oder Thomas von Aquin lesen kann. Denn Gebet ist von
seinem Wesen her nicht Selbst-Gespräch, sondern Sprechen zu Gott.
Umgekehrt genügt es nicht, damit ein Gebet „inneres Gebet" sei,
dass man einfach keine Worte ausspricht, sondern auch hier ist entscheidend, zu wissen, vor wem man steht - „wer Er ist, und wer ich
bin":
„Es ist noch kein Zeichen inneren Gebets, wenn man den
Mund schließt. Wenn ich mir beim Sprechen der Worte klar bewusst bin, dass ich
mit Gott spreche, und meine Aufmerksamkeit mehr auf ihn richte als auf die
Worte selbst, so bete ich innerlich und mündlich zugleich." (cap. 22).
In Antwort auf die anscheinend verbreitete Ansicht,
für die Schwestern ohne theologische Bildung genüge das Vaterunser und das Ave
Maria, und sie sollten sich nicht um Gebetsanleitungen etc. bemühen, die möglicherweise
zu Verstiegenheiten führen könnten, schreibt TERESA (cap. 21):
„Genau das meine ich auch, Schwestern, das genügt
vollkommen. Es ist immer gut, wenn ihr Gebete, die aus dem Mund des Herrn
kamen, zur Grundlage eures Betens macht. Darin haben jene Recht; denn wären wir
nicht so schwach und lau, brauchten wir keine anderen Gebetsanleitungen und
keine anderen Bücher. Ich wende mich hier an Personen, die nicht gesammelt bei
der Betrachtung eines Geheimnisses verweilen können und denen diese Gebetsart künstlich
vorkommt; ebenso beziehe ich jene mit ein, die einen so scharfen Verstand
haben, dass ihnen nichts genügt. So möchte ich nun auf der Grundlage dieser
Gebete einige Regeln für Beginn, Weiterführung und
Endstufe des Gebets darlegen [...]. Mir geht es um eine schlichte Betrachtung
der Worte des Vaterunsers."
In den wenigen Worten des Herrengebets, so Teresa, „ist die ganze Kontemplation
und Vollkommenheit eingefangen" - es sei ein Gebet für die Anfänger auf dem
Glaubensweg genauso wie für die „Starken", d.h. diejenigen, die schon hohe
Gnaden empfangen (cap. 37,1). Der gleichen Ansicht ist übrigens auch JOHANNES CASSIAN, der Verfasser grundlegender,
das gesamte Mönch turn prägender Werke: Das Vaterunser enthalte alle
Vollkommenheit und führe zum „erhabeneren Zustand des Gebetes" (Collationes IX, 25). Wenn man jemand zum
Gebet anleiten will - so gut das ein Mensch überhaupt kann -, dann muss man ihn
dazu führen, das Gebet des Herrn in rechter Weise zu beten, hineinzuwachsen in
dieses Gebet, das. göttlichen Ursprungs ist. Folgerichtig führt Teresa ihre
Unterweisung über das Gebet am „Vaterunser" durch (Weg der Vollkommenheit, cap. 27-42). Zuvor - und
dazwischen immer wieder - gibt sie grundlegende Hinweise zur Praxis des
persönlichen Gebetes:
Erstens: Echte Sehnsucht nach Gottesbegegnung ist mit Demut verbunden, und nicht zu
verwechseln mit maßlosem Verlangen nach kontemplativen Erfahrungen (cap.
16-18). Gott führt seine Gläubigen auf verschiedenen Wegen - die Gnade der
Kontemplation nicht zu haben, bedeutet nicht notwendig, weniger vollkommen zu
sein (z.B. cap. 17,2). Zum kontemplativen Gebet erhebt Gott allein, es ist
reine Gnade (cap. 25,2). - „Inneres Gebet" aber, was nicht dasselbe ist
wie „kontemplatives Gebet", ist notwendig, damit ein Mensch überhaupt
betet. Teresa erinnert ihre Schwestern auch daran, dass man kein „Recht"
darauf hat, im Gebet „Tröstungen", freudvolle Empfindungen zu erhalten,
auch wenn man sich alle Mühe gibt. Demut heißt vielmehr, sich als „unnütze
Magd" zu wissen - in froher Dankbarkeit gegenüber Gottes Gaben, ohne
Bitterkeit oder kleinmütige Enttäuschung, ohne ständiges Sich-Vergleichen mit
anderen oder versteckten Groll. Teresa vergleicht die Haltung der echten Demut
(die Haltung Mariens) mit der Königin im Schachspiel: Sie setzt den König
schachmatt (cap. 16,2).
Zum Gebet gehört, zweitens: „dem Herrn entschlossen ein wenig Zeit widmen", und „treu" darin zu sein; denn
„mangelnder Umgang bewirkt, dass man sich entfremdet und mit dem anderen nicht
mehr zu reden weiß; es ist dann so, als kenne man ihn nicht, selbst wenn er mit
uns verwandt ist" (cap. 26,9). Ganz abgesehen davon, dass es kein Zeichen
rechter Freundschaft ist, wenn man jemandem etwas verspricht - in
diesem Fall: ein Weilchen zu beten - und es einem dann leid tut, so
dass man das Versprochene wieder entzieht. Teresa weiß sehr gut: Zeit zu widmen
ist manchmal ein Kampf - gegen innere und äußere Widerstände; sei es dass man
sich fürchtet, für zu fromm gehalten zu werden, oder dass man gegen die eigene
innere Stumpfheit angehen muss. Man wird aber wachsen in der Stärke, wenn man
jeweils den Schritt geht, der einem möglich ist. Beten heißt beten wollen.
Drittens: Das Wesentliche des inneren Gebetes besteht
darin, den Blick der Seele auf Christus zu richten (cap. 26,3): „Nicht über ihn
(Christus) nachdenken, sondern ihn anschauen", sich der Gegenwart bewusst zu
werden. Das heißt, sich klar zu werden, dass der Herr nicht passiv ist, nicht irgendwo „weit
weg", sondern seine Augen und sein Ohr bei dem Menschen hat, der jetzt zu
ihm betet. Gott ist nicht ein Machwerk meiner Gedanken, nicht ein Gegenstand,
über den man nur nachdenkt, sondern Person, er ist Jemand, der den betenden Menschen erwartet.
Daher besteht die Beziehung zu ihm nicht so sehr im „Nachdenken", sondern
im „Anschauen". Gewöhnt man sich daran, zu Beginn des Betens gewissermaßen
ihm die Augen zuzuwenden, dann werde die Gegenwart Christi im eigenen Inneren
zunehmend leichter gefunden, verspricht Teresa. Man kehrt nach Unterbrechungen
dann auch viel rascher zum Gebet zurück. Oder anders herum gesagt: Christus
bleibt so sehr gegenwärtig, dass man „Ihn gar nicht mehr vertreiben kann"
(cap. 26,1).
Das Vaterunser - Spiegel des geistlichen Weges
Ein Christ ist jemand, der an Jesus Christus als den
Sohn Gottes glaubt - wobei dieser Glaube getragen ist vom Heiligen Geist, dem
Geist des Vaters und des Sohnes. Die „Vater-"Anrede des Herrengebetes
enthält in sich bereits den Gedanken an Jesus, den Sohn: Wir reden nicht
allgemein Gott als Vater aller Geschöpfe an, sondern wir sprechen zu
demjenigen, den Jesus „Abba - lieber Vater" nennt, und von dem er den
Jüngern sagt: „Euer Vater im Himmel weiß, was ihr braucht". Das Vaterunser
ist Gebet „in Christus", in Teilnahme
an seiner Beziehung zu seinem Vater. Teresa wird noch konkreter: Jesus spreche uns dieses Gebet gewissermaßen
vor; sie betrachtet Jesus als
denjenigen, der das Vaterunser in unserem Namen spricht. Wenn wir also das
Vaterunser sprechen, stimmen wir in das Gebet Jesu ein und vereinen uns mit
ihm: Unser stammelndes Beten wird befreit und vervollkommnet durch ihn. Oder
mit einem modernen Autor (Henri Caffarel) gesagt: Jesus will, dass sein eigenes
Gebet in seinen Brüdern und Schwestern widerhallt. Teresa entfaltet aus der
Vater-Anrede eine Betrachtung der Güte des Vaters, welche
unter den Gläubigen eigentlich alle Überheblichkeit wegen irdischer
Vorzüge (Herkunft, Schönheit, Begabung, Besitz) auslöschen müsste (cap. 27,6).
Der größte Vorzug, der höchste Adel ist es doch, zu den Brüdern und Schwestern
Jesu gehören zu dürfen.
Der Zusatz „im Himmel" (wörtlich nach dem
griechischen und lateinischen Urtext: „in den Himmeln") ist besonders
wichtig für die „Sammlung" des betenden Menschen. Wo soll man denn Gott suchen,
wo ihn sich vorstellen, was heißt „Himmel"? Die Gegenwart Gottes ist nicht
irgendwo zu suchen, sondern wie Teresa bei AUGUSTINUS gelernt haben könnte: Der Himmel ist im Inneren des Menschen, wo Gott wohnen
will:
„... mir war das eine Zeitlang nicht klar gewesen.
Wohl verstand ich, dass ich eine Seele hatte; aber was diese Seele wert ist und
wer in ihr wohnt, verstand ich nicht [...]. Hätte ich damals in der gleichen Tiefe
wie heute erkannt, dass in diesem kleinen Palast meiner Seele ein so großer
König wohnt, hätte ich ihn meiner Meinung nach nicht so häufig allein gelassen
..." (cap. 28,11). Man muss nicht laut rufen - der, den man anruft, ist im
eigenen Innersten da. So bringt es auch die bekannte Liedstrophe zum Ausdruck:
„Schau, dein Himmel ist in mir, er begehrt dich seine Zier..." (Angelus
Silesius). Die Zierde des Himmels ist die Sonne; ohne sie wäre der Himmel
dunkel. In Teresas Gleichnis: Das Licht Christi bringt den Kristall der
„inneren Burg", welche die Seele ist, erst zum Leuchten.
Die folgenden beiden Bitten: „Geheiligt werde dein
Name, dein Reich komme" werden von Teresa zusammenfassend erklärt (cap.
30.31). Hier wird das „Gebet der Ruhe" beschrieben, „der Beginn der
reinen Beschauung": „Der Herr versetzt die Seele durch seine Gegenwart in
Frieden; denn alle Seelenkräfte werden still." Gott lässt bereits sein
Reich des Friedens spüren.
Die Bitte um das „Geschehen von Gottes Willen"
ist nach Teresa eine gewaltige Herausforderung; sie auszusprechen erfordert
große Liebe und Leidensmut; denn sie ist die Bitte Jesu am Ölberg. Ja, Teresa
betont in auffälliger Weise die Bereitschaft zur Kreuzesnachfolge, die mit
dieser Bitte ausgedrückt wird.
In der Tat - wer diese Bitte bewusst ausspricht, dem können wohl die
Knie zittern. Es kommt vielleicht die bange Frage hoch: Was mag der Wille
Gottes sein - Leidvolles? Vielleicht gerade das, was ich nicht will? Die eigene
Furcht und Schwäche können spürbar werden. Darum ist hier von großer
Wichtigkeit, sich klar vor Augen zustellen, dass der Wille Gottes „heilig"
ist, nicht willkürlich oder tyrannisch. „Im Himmel" geschieht dieser Wille
leicht und freudig, weil diese Geschöpfe klar
erkennen, dass Gottes Wille das Gute schlechthin ist;
aber „auf Erden" ist es noch nicht so weit. Hier geschieht auch vieles,
was Gott nur zulässt - freilich nicht einfach passiv, sondern mit der
Entschlossenheit und Macht, für diejenigen, die ihm vertrauen und ihn lieben,
alles, auch das Leidvolle, zum Besten gedeihen zu lassen (Rom 8,28).
Wer betet: „Dein Wille geschehe", nimmt sozusagen allen Mut
zusammen, und gibt seiner auf Gott gegründeten Hoffnung Ausdruck: Ich vertraue
Dir, Herr, selbst wenn ich es nicht verstehe, auf welchen Wegen du mich zum
Heil führst. Teresa betont, dass diese Bitte nur aus großer Liebe möglich ist,
indem man sie mitspricht mit Jesus.
In Teresas Sicht enthält diese Bitte die Lehre über
die „vollkommene Beschauung": Wie die Anrufung des Vaters „im Himmel"
der Sammlung
entspricht,
die Bitte um die „Heiligung des Namens und das Kommen des Reiches" dem Gebet der Ruhe, also den ersten Stufen der
Beschauung, so entspricht die Bitte um den „Willen Gottes" dem Gebet der Vereinigung (cap. 32,9). Die kontemplative
Vereinigung ist eine Vereinigung in Liebe und setzt die Einheit des Wollens
voraus, das heißt: die Hingabe des eigenen Willens an den Willen Gottes. Wer
die Ölberg-Bitte Jesu mitspricht, bringt sein Verlangen zum Ausdruck, sich dem
Vater in vollkommenem Vertrauen ganz zu überlassen - selbst wenn diese
vollkommene Zustimmung zum Willen Gottes Leiden mit sich bringt, wie es bei
Jesus der Fall war. Ohne die ganze Hingabe wird man Gott nicht ganz empfangen
können. Wenn sich aber jemand auf diese Weise Gott überlässt, so Teresa, dann
beginnt „der Herr ihr eine solche Freundschaft zu bezeugen, dass er ihr nicht
nur ihren Willen zurückgibt, sondern ihr auch noch den Seinen dazu schenkt
[...] Er unterwirft sich ihren Bitten, so wie sie den seinen." (cap.
32,12)
Ohne eine besondere Stärkung aber könnte niemand diese
Übereignung des Willens an den Vater vollziehen. Teresa sieht die Stärkung in
der folgenden vierten Bitte um „das tägliche Brot heute" (cap. 33-35)
erbeten und zugesagt: Das „Brot" ist die eucharistische Gegenwart, die im „Heute" dieser
Weltzeit gegeben wird, so dass die Gläubigen in der Vereinigung mit Christus
den Weg der Kreuzesnachfolge gehen können.
Mit dieser Deutung des „täglichen Brotes" auf die eucharistische
Speise steht Teresa nicht allein; im Gegenteil, bis einschließlich des frühen
Martin Luther war die Auslegung der Brotbitte als Bitte um das geistliche Brot,
die „Seelenspeise", die vorherrschende Deutung, sowohl in der lateinischen
Kirche wie in den östlichen Kirchen. Mag sein, dass uns heute diese Deutung
überraschend oder befremdlich vorkommt. Aber für Teresa und viele große
Theologen der Patristik und des
Mittelalters war sie geradezu sonnenklar - schon weil
das Vaterunser in der Messfeier unmittelbar vor der Kommunion seinen Platz hat,
gewissermaßen als Tischgebet. Auch die sprachliche Formulierung der vierten
Bitte gab zu denken: Warum wird so betont gesagt „unser Brot" - was ist denn
„unser" Brot, das Brot derer, die Gott ihren Vater nennen? Und warum
enthält die Formulierung eine auffällige Verdoppelung „täglich - heute"?
Die größten Kenner der biblischen Sprachen, wie Origenes, Hieronymus und
Erasmus von Rotterdam, wandten all ihr Können und Wissen auf, um zu erhellen,
was das griechische Adjektiv, das wir in der Übersetzung „täglich" kennen,
wirklich bedeutet. Das Wort bleibt geheimnisvoll: es könnte auch als
„notwendig", „wesenhaft" oder „zukünftig" übersetzt werden. Auch
wenn Teresa philologische Erwägungen nicht vertraut waren, so fiel ihr doch
auf, dass mit „täglich" und „heute" scheinbar das gleiche zweimal
gesagt werde (cap. 33,4; 34,1.2). Auch spielt sie auf das Johannes-Evangelium
an (Joh 6), wo Jesus von sich sagt, er sei das Brot, das vom Himmel
herabgekommen ist, und sein Fleisch sei „eine wahre Speise", die das Manna
der Wüstenwanderung überbietet; denn das Manna bewirkte nicht das ewige Leben,
anders als „das wahre Brot vom Himmel", das „mein Vater (!) gibt".
Im folgenden Abschnitt (cap. 34) empfiehlt Teresa mit großem Nachdruck,
ja mit Begeisterung und Innigkeit, die Zwiesprache und das Verweilen in der
Gegenwart Christi gerade nach dem Empfang der hl. Kommunion.
„Vergib uns ... wie auch wir vergeben": Die Bereitschaft zu vergeben wird auch
außerhalb des Vaterunsers von Jesus gefordert; der Inhalt ist gewissermaßen
ohne Schwierigkeiten zu verstehen. Doch Teresa sieht auch diese Bitte im
Gesamtzusammenhang des geistlichen Lebens und seines Wachstums:
Vergebungsbereitschaft nennt sie eine „Frucht" und klares Merkmal der Echtheit von
empfangenen kontemplativen Gnaden:
„Ich sage es noch einmal: Mir sind viele Personen
bekannt, denen der Herr die Gnade erwies, sie zu übernatürlichen Dingen zu
erheben, indem er ihnen das oben genannte Gebet, die Beschauung, schenkte; und
wenn ich bei ihnen auch noch gar manche Fehler und Unvollkommenheiten fand, so
bemerkte ich diesen Mangel [nicht zu verzeihen] doch bei keinem von ihnen und
glaube auch nicht, dass er ihnen anhaftet, wenn die Gnaden, wie gesagt,
wirklich von Gott sind. Wer also größere Gnaden empfängt, der schaue in sein
Inneres und prüfe sich, wie stark diese Wirkungen zunehmen!"
Schwieriger wieder scheint uns die Bitte um Bewahrung
vor Versuchung. Für Teresa ist klar und wird nicht weiter, von ihr diskutiert,
dass Gott
nicht „in Versuchung führt",
dass aber Menschen, die Gott mit ganzem Herzen dienen
wollen, sich auf geistliche Kämpfe gefasst machen müssen, ja mutig damit
rechnen. Die offenkundigen Angriffe sind jedoch nicht die gefährlichsten,
sondern die verborgenen, die den Menschen „täuschen". Die Bitte um
Bewahrung bezieht sich nach Teresa vor allem auf zwei besonders gefährliche
Versuchungen, die auch im geistlichen Leben bereits Fortgeschrittene befallen
können.
Die eine besteht in
der Gefahr
der Selbstüberschätzung: Weil einem manches mit der Zeit schon leichter fällt,
bildet man sich ein, die entsprechenden Tugenden - die ein Geschenk Gottes sind
- sicher zu besitzen
(cap. 38).
Tugenden sind zwar per definitionem eingewurzelte, dauerhafte Haltungen, z. B.
Tapferkeit, Geduld, Armut und Losgelöst-Sein etc.; aber wir kennen uns selbst
nicht so gut, dass wir beurteilen könnten, wie tief solch eine gute Eigenschaft
tatsächlich in uns Wurzeln geschlagen hat. Dies lehrt uns oft erst eine
Prüfung, die uns überkommt. Teresa spricht von ihrer eigenen Erfahrung: Oft
habe sie wirklich Großes vollbracht, und sei am nächsten Tag über Kleinigkeiten
gestolpert - das habe ihr klar gemacht, dass es Gott ist, der die Kraft gibt;
sich selbst überlassen ist der Mensch schwach:
„Manchmal bilde ich mir [zum Beispiel] ein, keinerlei
üble Nachrede oder Verleumdung könne mir etwas ausmachen; und zuweilen hat mir
die Erfahrung wirklich gezeigt, dass ich mich darüber sogar freuen konnte; dann
aber gibt es Tage, an denen mich schon ein einziges Wort betrübt und ich am
liebsten aus der Welt scheiden möchte, weil mir alles unerträglich wird. Aber
nicht nur mir ergeht es so, sondern ich habe es auch bei vielen anderen
Personen beobachtet, die besser sind als ich, und weiß darum, dass es wirklich
so ist." (cap. 38,5)
Ähnlich handelt es sich um Selbstüberschätzung, wenn man sich „in einer
gewissen Sicherheit wiegt, auf keinen Fall mehr in frühere Sünden
zurückzufallen", sozusagen die Welt schon überwunden zu haben (cap. 39,6).
Solche unbegründete Sicherheit verführt den Menschen zu leichtsinniger
Unvorsichtigkeit, seine Wachsamkeit schläft ein. Dies kann zu einem schweren
Sturz führen. Die Vaterunser-Bitte, nicht in Versuchung zu geraten, schließt
also in erster Linie ein, vor solcher Selbst-Täuschung beschützt zu bleiben.
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Die andere Versuchung ist gewissermaßen das Gegenteil, auch dies kennt
Teresa aus eigener Erfahrung:
„... während es manchmal tatsächlich Demut und Tugend
sein kann, sich selbst als schlecht einzuschätzen, kann es ein andermal die
größte Versuchung sein. Weil ich selbst diese Anfechtung durchlitten habe,
kenne ich sie." (cap. 39, 2).
Es ist die Anfechtung der verkehrten „Demut": Die Erkenntnis der eigenen
Armseligkeit und Sünde nimmt allen Mut, quält und lähmt, kann bis zum Zweifel
an Gottes Barmherzigkeit führen. Es handelt sich nur dem Schein nach um die
Tugend der Demut; unter der Hülle steckt die Versuchung zum Misstrauen
gegenüber Gott (cap. 39,3). Die echte Demut dagegen:
„... so groß sie auch sein mag, beunruhigt,
verängstigt und verwirrt die Seele nicht, sondern bringt ihr Frieden, innere
Freude und Ruhe. Auch wenn jemand beim Anblick seiner Armseligkeit klar
erkennt, dass er die Hölle verdient hat, wenn er traurig wird und meint, alle
müssten ihn zurecht verabscheuen, wenn er fast nicht um Erbarmen zu bitten
wagt: Liegt echte Demut zugrunde, dann ist dieser Schmerz so mild und mit
solcher Freude verbunden, dass man ich ihn nicht mehr missen möchte [...] er
macht die Seele weit und befähigt sie, Gott mehr zu dienen." (cap. 39,3).
Teresa fügt hinzu, es könne vorkommen, dass jemand von solchen Gedanken der
eigenen Erbärmlichkeit niedergedrückt werde, ohne ihrer Herr zu werden. „Aber
es ist schon sehr viel, wenn ihr die Versuchung als solche erkennt", das
bedeutet nämlich: die Möglichkeit zu ergreifen, von den bedrängenden Gedanken
bewusst Abstand zu nehmen - und somit frei zu werden. So gut man könne, rät
Teresa, soll man an die Barmherzigkeit Gottes, die Größe seiner Liebe und an
das Leiden Christi für uns denken (cap. 39,4).
Die Bitte um die endgültige Befreiung von allem Bösen
schließlich beinhaltet die Bitte um das Eingehen-Dürfen ins ewige Leben (cap. 42). Sie wächst nicht
aus Müdigkeit oder Verzagtheit, sondern aus großer Sehnsucht. In vollkommener
Weise wird sie, so Teresa, von denjenigen Menschen ausgesprochen, denen Gott
durch die Beschauung schon einen Vorgeschmack gegeben hat auf die Fülle des
Himmels, so dass sie an diesem Leben nicht mehr hängen. Wie die Bereitschaft zu
vergeben, so gilt auch die Sehnsucht nach dem ewigen Leben als ein deutliches
Zeichen für die Echtheit kontemplativer Gnaden (Cap. 42,3).
Das Vaterunser beginnt, unter der Führung der Worte
Jesu, mit der Hinwendung zu Gott, der den Menschen „im kleinen Himmel der
Seele" schon erwartet, und endet mit der sicheren Hoffnung auf die Fülle
des ewigen Lebens. Dazwischen liegt der Weg wachsenden Vertrauens und tiefer
werdender Liebe zu Gott. So schließt Teresa den „Weg der Vollkommenheit"
mit den Worten:
„Seht, Schwestern, wie der Herr mir zu Hilfe kam, da
er euch und mich den Weg lehrte, den zu erklären ich begonnen habe! Und er hat
mich erkennen
lassen, welche Fülle wir mit diesem Gebet des Evangeliums erbitten.
Gepriesen sei er in Ewigkeit! Denn mir wäre es gewiss nie in den Sinn gekommen,
dass dieses Gebet so tiefe Geheimnisse enthalten könnte. Wie ihr gesehen habt,
beinhaltet es ja den gesamten Weg des geistlichen Lebens von seinen Anfängen
bis zu dem Punkt, da Gott die Seele in sich versenkt und ihr überreich aus der
Quelle lebendigen Wassers zu trinken gibt ..."
(Cap. 42,5).
[1] Es gibt mehrere deutsche
Übersetzungen, auch Auswahl-Ausgaben, des „Weges der
Vollkommenheit", die Zitation bezieht sich hier auf: TERESA VON AVILA, Der Weg der Vollkommenheit, hrsg. vom Karmel St.
Josef-Hauenstein, 1992.
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